Zugbrücke außer Betrieb

Die Mathematik im Jenseits der Kultur - Eine Außenansicht - Von Hans Magnus Enzensberger

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.08.1998, Nummer 200

 

Es sind immer die gleichen Töne: "Hören Sie auf! Mit Mathematik können Sie mich jagen." – "Eine Qual, schon in der Schule. Keine Ahnung, wie ich damals durchs Abitur gekommen bin." – "Ein Albtraum! Völlig unbegabt, wie ich nun mal bin." – "Die Mehrwertsteuer kriege ich gerade noch hin, mit dem Taschenrechner. Alles andere ist mir zu hoch." – "Mathematische Formeln – das ist Gift für mich, da schalte ich einfach ab." Solche Beteuerungen hört man alle Tage. Durchaus intelligente, gebildete Leute bringen sie routiniert vor, mit einer sonderbaren Mischung aus Trotz und Stolz. Sie erwarten verständnisvolle Zuhörer, und an denen fehlt es nicht. Ein allgemeiner Konsens hat sich herausgebildet, der stillschweigend, aber massiv die Haltung zur Mathematik bestimmt. Daß ihr Ausschluß aus der Sphäre der Kultur einer Art von intellektueller Kastration gleichkommt, scheint niemanden zu stören. Wer diesen Zustand bedauerlich findet, wer etwas vom Charme und von der Bedeutung, von der Reichweite und von der Schönheit der Mathematik murmelt, wird als Experte bestaunt; wenn er sich als Amateur zu erkennen gibt, gilt er im besten Fall als Sonderling, der sich mit einem ausgefallenen Hobby beschäftigt, so als züchte er Schildkröten oder sammle viktorianische Briefbeschwerer. Wesentlich seltener trifft man Leute, die mit ähnlicher Emphase behaupten, es bereite ihnen schon der Gedanke, einen Roman zu lesen, ein Bild zu betrachten oder ins Kino zu gehen, unüberwindliche Qualen; seit dem Abitur hätten sie jede Berührung mit den Künsten, gleich welcher Art, peinlich vermieden; an frühere Erfahrungen mit der Literatur oder der Malerei möchten sie lieber nicht erinnert werden. Und so gut wie nie hört man Bannflüche auf die Musik. Gewiß gibt es Leute, die, möglicherweise nicht zu Unrecht, behaupten, sie seien unmusikalisch. Der eine singt eher laut und falsch, der andere spielt kein Instrument, und die wenigsten Zuhörer eilen mit der Partitur unterm Arm ins Konzert. Aber wer würde im Ernst behaupten, er kenne keine Lieder? Gleichgültig, ob es sich um die Spice Girls oder die Nationalhymne, um Techno oder den Gregorianischen Choral handelt, niemand ist der Musik gegenüber gänzlich immun. Und das aus gutem Grund. Die Fähigkeit, Musik zu machen und zu hören, ist genetisch verankert; sie gehört zu den anthropologischen Universalien. Das bedeutet natürlich nicht, daß wir alle gleichermaßen musikalisch begabt wären. Wie alle anderen Gaben und Eigenschaften folgt auch dieser Aspekt unserer Ausstattung der Gaußschen Normalverteilung. Ebenso selten wie extreme Hochbegabungen finden sich in jeder x-beliebigen Population Menschen, die musikalisch vollkommen taub sind; das statistische Maximum wird im Mittelfeld erreicht. Ganz genau so verhält es sich selbstverständlich mit den mathematischen Fähigkeiten. Auch sie sind im menschlichen Gehirn genetisch angelegt, und auch sie verteilen sich in jeder Bevölkerung exakt nach dem Modell der Glockenkurve. Es ist folglich eine abergläubische Vorstellung, das mathematische Denken sei eine rare Ausnahmeerscheinung, eine exotische Laune der Natur. Wir stehen vor einem Rätsel. Woher kommt es, daß die Mathematik in unserer Zivilisation so etwas wie ein blinder Fleck geblieben ist, ein exterritoriales Gebiet, in dem sich nur wenige Eingeweihte verschanzt haben?

 

Eine gewisse Isolation

Wer sich die Antwort leichtmachen will, wird sagen, daran seien die Mathematiker selber schuld. Diese Erklärung hat den Vorzug der Schlichtheit. Außerdem bestätigt sie ein Klischeebild, das sich die Außenwelt seit je von den professionellen Vertretern der Disziplin gemacht hat. Man stellt sich unter einem Mathematiker einen profanen Hohepriester vor, der eifersüchtig seinen speziellen Gral hütet. Den gewöhnlichen Dingen dieser Welt wendet er den Rücken zu. Ausschließlich mit seinen unverständlichen Problemen beschäftigt, fällt ihm die Kommunikation mit der Außenwelt schwer. Er lebt zurückgezogen, faßt die Freuden und Leiden der menschlichen Gesellschaft als lästige Störungen auf und frönt überhaupt einer Eigenbrötlerei, die an Misanthropie grenzt. Mit seiner logischen Pedanterie geht er seinerseits der Mitwelt auf die Nerven. Vor allem aber neigt er zu einer schwer erträglichen Form von Hochmut. Intelligent, wie er nun einmal ist –. niemand macht ihm diesen Titel streitig –, betrachtet er die hilflosen Versuche der andern, den einen oder andern Gedanken zu fassen, mit geringschätziger Herablassung. Deshalb würde es ihm niemals einfallen, für seine Sache zu werben. So weit die Karikatur, die allerdings oft genug für bare Münze genommen wird. Das ist natürlich Unsinn. Abgesehen von ihrer Tätigkeit, unterscheiden sich Mathematiker vermutlich wenig von anderen Leuten, und ich kenne Männer und Frauen vom Fach, die lebenslustig, weltgewandt, witzig und zuweilen sogar unvernünftig sind. Dennoch steckt im Klischee wie gewöhnlich ein wahrer Kern. Jeder Beruf hat seine eigenen Risiken, seine spezifischen Pathologien, seine deformation professionelle. Bergleute leiden unter ihrer Staublunge, Schriftsteller an narzißtischen Störungen, Regisseure an Größenwahn, Alle diese Defekte lassen sich auf die Produktionsbedingungen zurückführen, unter denen die Patienten arbeiten. Was die Mathematiker betrifft, so verlangt ihre Tätigkeit vor allem extreme und lang andauernde Konzentration. Es sind sehr dicke und sehr harte Bretter, die sie zu bohren haben. Kein Wunder, daß dabei jede von außen kommende Irritation als Zumutung empfunden wird. Zum andern verhält es sich so, daß die Zeit der Universal-Mathematiker vom Schlage eines Euler oder eines Gauß schon seit langem abgelaufen ist. Niemand überblickt heute mehr alle Gebiete seiner Wissenschaft. Das bedeutet aber auch, daß in der Forschung der Kreis der möglichen Adressaten schrumpft. Arbeiten, die wirklich originell sind, werden zunächst nur von wenigen Fachkollegen verstanden; sie zirkulieren per E-Mail unter einem Dutzend Lesern zwischen Princeton, Bonn und Tokio. Das hat in der Tat eine gewisse Isolation zur Folge. Den Versuch, sich Außenseitern verständlich zu machen, haben solche Forscher längst aufgegeben, und es mag wohl sein, daß diese Haltung auch auf andere, weniger fortgeschrittene Arbeiter im Weinberg der Mathematik abfärbt. Bezeichnend dafür ist eine Redensart, die bereits das Erstsemester in jeder beliebigen Vorlesung über Funktionentheorie oder Vektorräume zu hören bekommt. Diese Ableitung oder jene Zuordnung, heißt es da, sei "trivial", und damit basta. Jede weitere Erklärung erübrigt sich; sie wäre sozusagen unter der Würde des Mathematikers. Nun ist es in der Tat mühselig und langweilig, jedes einzelne Glied einer Beweiskette jedesmal von neuem aufzudröseln. Deshalb sind Mathematiker darauf trainiert, wiederkehrende Zwischenschritte zu übergehen, das heißt, ihre tausendfach erprobte Gültigkeit einfach vorauszusetzen. Das ist zweifellos ökonomisch. Doch beeinflußt es das kommunikative Verhalten in einer ganz bestimmten Richtung. Als gesprächsfähig kann unter Fachleuten nur der gelten, für den das Triviale trivial ist, sich also von selbst versteht. Alle, auf die das nicht zutrifft, also mindestens 99 Prozent der Menschheit, sind in diesem Sinn hoffnungslose Fälle, mit denen sich zu unterhalten einfach nicht lohnt. Dazu kommt, daß die Mathematiker nicht nur wie andere Wissenschaftler über eine eigentümliche Fachsprache, sondern auch über eine Notation verfügen, die sich von der gewohnten Schrift unterscheidet und die für ihre Binnenkommunikation unentbehrlich ist. (Auch hier kann man von einer Analogie zur Musik sprechen, die ebenfalls ihren eigenen Code ausgebildet hat.) Nun geraten aber die meisten Menschen, kaum daß sie einer Formel ansichtig werden, in Panik. Schwer zu sagen, woher dieser Fluchtreflex rührt, der wiederum den Mathematikern unbegreiflich ist. Sie sind nämlich der Ansicht, daß ihre Notation wunderbar. deutlich und jeder natürlichen Sprache weit überlegen ist. Deshalb sehen sie gar nicht ein, weshalb sie sich die Mühe machen sollten, ihre Ideen ins Deutsche oder ins Englische zu übersetzen. Ein solcher Versuch käme in ihren Augen einer schrecklichen Verballhornung gleich, Somit wären also die Mathematiker an der insulären Lage ihrer Wissenschaft selber schuld? Sie selber hätten der Gesellschaft den Rücken zugewandt und die Zugbrücke zu ihrer Disziplin mutwillig hochgezogen. So leicht kann sich die Antwort nur machen, wer das Problem und seine Tragweite unterschätzt. Es ist einfach nicht plausibel, den Schwarzen Peter einer Minderheit von Experten zuzuschieben, solange eine überwältigende Mehrheit aus freien Stücken darauf verzichtet, sich ein kulturelles Kapital von immenser Bedeutung und von größtem Reiz anzueignen.

 

Zwischen Nutzen und Eleganz

Bekanntlich ist die Ignoranz eine Himmelsmacht von unbesiegbarer Stärke. Die meisten Menschen sind vermutlich überzeugt davon, daß es sich ganz gut ohne mathematische Kenntnisse leben läßt und daß diese Wissenschaft unwichtig genug ist, um sie den Wissenschaftlern zu überlassen. Viele hegen sogar den Verdacht, daß es sich dabei um eine brotlose Kunst handelt, deren Nutzen keineswegs auf der Hand liegt. In diesem Irrtum dürfen sie sich bestärkt fühlen durch die Ansichten mancher Mathematiker, die mit starken Worten die Reinheit ihres Schaffens verteidigen. So der eminente englische Zahlentheoretiker Godfrey Harold Hardy, der das folgende berühmte Bekenntnis abgelegt hat: "Ich habe nie etwas gemacht, was "nützlich" gewesen wäre. Für das Wohlbefinden der Welt hatte keine meiner Entdeckungen – ob im Guten oder Schlechten – je die geringste Bedeutung, und daran wird sich auch vermutlich nichts ändern. Ich habe mitgeholfen, andere Mathematiker auszubilden, aber Mathematiker von derselben Art, wie ich einer bin, und ihre Arbeit war, zumindest soweit ich sie dabei unterstützt habe, so nutzlos wie meine eigene. Nach allen praktischen Maßstäben ist der Wert meines mathematischen Lebens gleich Null, und außerhalb der Mathematik ist es ohnehin trivial." – Da ist es wieder, das ominöse Wort trivial, mit dem alles gebrandmarkt wird, was der Autor verachtet. – "Ich habe nur eine Chance", fährt Hardy fort, "dem Verdikt vollkommener Trivialität zu entgehen, und zwar dadurch, daß man mir zugesteht, etwas geschaffen zu haben, was sich zu schaffen lohnte. Daß ich etwas geschaffen habe, ist nicht zu bestreiten; die Frage ist nur, ob es etwas wert ist." (A Mathematician’s Apology, Cambridge 1967.) Wunderbar gesagt! Eine Bescheidenheit, die von aristokratischem Hochmut kaum zu unterscheiden ist. Nichts liegt einem Mathematiker wie Hardy ferner, als um die Anerkennung seiner Mitmenschen zu buhlen und sich auf den praktischen Nutzen seiner Arbeit zu berufen. Damit hat er recht und unrecht zugleich. Seine Haltung kommt der eines Künstlers nahe. Unter rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten hätten es nicht nur Ovid und Bach schwer gehabt, sondern auch Pythagoras und Cantor. Ihre Arbeit würde kaum jene fünfzehn Prozent sofortiger Rendite abgeworfen haben, die heute unter dem Banner des shareholder value als Richtmaß gelten. Freilich wären die allermeisten menschlichen Tätigkeiten unter diesem Gesichtspunkt hinfällig. (Nebenbei bemerkt, gehört die mathematische Forschung zu den preiswertesten Kulturleistungen. Während der neue Teilchenbeschleuniger des Genfer CERN auf vier bis fünf Milliarden veranschlagt wird, nimmt das Max-Planck-Institut für reine Mathematik in Bonn, ein Forschungszentrum von Weltruf, nur 0,3 Prozent vom Haushalt der Max-Planck-Gesellschaft in Anspruch. Große Mathematiker wie Galois oder Abel waren zeit ihres Lebens bettelarm. Billigere Genies dürften schwer zu finden sein.)

Die Autonomie, die Hardy für seine Grundlagenforschung einfordert, findet ihr Gegenstück in den Künsten, und es ist durchaus kein Zufall, daß den meisten Mathematikern ästhetische Kriterien nicht fremd sind, es genügt ihnen nicht, daß ein Beweis stringent ist; ihr Ehrgeiz zielt auf "Eleganz". Darin drückt sich ein ganz bestimmter Schönheitssinn aus, der die mathematische Arbeit seit ihren frühesten Anfängen charakterisiert hat. Dies wirft natürlich von neuem die Rätselfrage auf, warum das Publikum zwar gotische Kathedralen, Mozarts Opern und Kafkas Erzählungen, nicht jedoch die Methode des unendlichen Abstiegs oder die Fourier-Analyse zu schätzen weiß. Was aber den gesellschaftlichen Nutzen angeht, so ist es ein leichtes, Hardys Behauptungen zu widerlegen. Ein Ingenieur, der einen ganz gewöhnlichen Elektromotor zu berechnen hat, bedient sich mit der größten Selbstverständlichkeit der komplexen Zahlen. Davon konnten Wessel und Argand, Euler und Gauß nichts ahnen, als sie um die Wende zum 19. Jahrhundert die theoretischen Grundlagen für diese Erweiterung des Zahlensystems schufen. Ohne den binären Zahlencode, den Leibniz entwickelt hat, wären unsere Computer undenkbar. Einstein hätte seine Relativitätstheorie ohne Riemanns Vorarbeiten nicht formulieren können, und Quantenmechaniker, Kristallographen und Nachrichtentechniker stünden ohne die Gruppentheorie mit ziemlich leeren Händen da. Die Erforschung der Primzahlen, ein Zweig der Zahlentheorie von unerschöpflichem Reiz, galt von jeher als esoterische Spezialität. Ein paar Jahrtausende lang, nicht erst seit Eratosthenes und Euklid, haben sich die besten Köpfe mit diesen höchst kapriziösen Zahlen beschäftigt, ohne daß sie hätten angeben können, wozu das gut sei – bis in unserem Jahrhundert plötzlich Geheimdienstleute, Programmierer, Militärs und Banker erkannten, daß man mit Faktorzerlegungen und Falltürcodes Kriege führen und Geschäfte machen kann.

 

Kopf und Universum

Die unvermutete Brauchbarkeit mathematischer Modelle hat etwas Verblüffendes. Es ist keineswegs klar, warum höchst präzise Hirngespinste, die fern von aller Empirie, gewissermaßen als l’art pour l’art, erdacht worden sind, derart geeignet sind, die reale Welt, so wie sie uns gegeben ist, zu erklären und zu manipulieren. Mehr als einer hat sich über "the unreasonable effectiveness of mathematics" gewundert. Für gläubigere Zeiten war diese prästabilierte Harmonie kein Problem; Leibniz konnte noch in aller Ruhe behaupten, mit Hilfe der Mathematik könnten wir "einen erfreulichen Einblick in die göttlichen Ideen gewinnen", einfach deshalb, weil der Allmächtige persönlich der erste Mathematiker war. Heute tun sich die Philosophen damit erheblich schwerer. Der alte Streit zwischen Platonikern, Formalisten und Konstruktivisten scheint mit einem matten Unentschieden zu versanden. Die Mathematiker kümmern sich in ihrer Praxis kaum um solche Fragen. Eine naheliegende Erklärung, die sich allerdings bei den Hütern der Tradition keiner großen Beliebtheit erfreut, könnte man darin sehen, daß es ein und dieselben Evolutionsprozesse sind, die das Universum und unser Gehirn hervorgebracht haben, so daß ein schwaches anthropisches Prinzip dafür sorgt, daß wir dieselben Spielregeln in der physischen Realität und in unserem Denken wiederfinden. Konrad Knopp konnte in seiner Tübinger Antrittsrede von 1927 triumphierend erklären, die Mathematik sei "die Grundlage aller Erkenntnis und die Trägerin aller höheren Kultur". Hoch gegriffen und pathetisch formuliert, aber nicht falsch. Nur daß der greifbare Nutzen, die technische Anwendung sich gewöhnlich erst hinterher, gewissermaßen hinter dem Rücken der mathematischen Pioniere einstellt, die wie Hardy rücksichtslos ihre eigenen Wege gehen, von denen niemand im voraus sagen kann, wohin sie führen werden. Die Vermittlungen zwischen reiner und angewandter Mathematik sind oft schwer zu durchschauen; auch das mag ein Grund dafür sein, daß der Stellenwert der mathematischen Forschung in den heutigen Gesellschaften phantastisch unterschätzt wird. Im übrigen dürfte es auch kein zweites Gebiet geben, auf dem der kulturelle time lag derart enorm ist. Das allgemeine Bewußtsein ist hinter der Forschung um Jahrhunderte zurückgeblieben, ja man kann kaltblütig feststellen, daß große Teile der Bevölkerung über den Stand der griechischen Mathematik nie hinausgekommen sind. Ein vergleichbarer Rückstand auf anderen Feldern, etwa der Medizin oder der Physik, wäre vermutlich lebensgefährlich. Auf weniger direkte Weise dürfte das auch für die Mathematik gelten; denn noch nie hat es eine Zivilisation gegeben, die bis in den Alltag hinein derart von mathematischen Methoden durchdrungen und derart von ihnen abhängig war wie die unsrige. Das kulturelle Paradox, mit dem wir es zu tun haben, ließe sich noch weiter zuspitzen. Man kann nämlich mit gutem Grund der Ansicht sein, daß wir in einem goldenen Zeitalter der Mathematik leben. Jedenfalls sind die zeitgenössischen Leistungen auf diesem Feld sensationell. Die bildenden Künste, die Literatur und das Theater würden bei einem Vergleich, wie ich fürchte, ziemlich schlecht abschneiden. Eine solche Behauptung genauer zu begründen, traue ich mir nicht zu. Als hoffnungsloser Laie kann ich den Argumenten der Mathematiker nur in den allergröbsten Zügen folgen. Oft muß ich schon froh sein, wenn ich kapiere, worum es ihnen eigentlich geht. Auch für mich bleibt die Zugbrücke zu ihrer Insel hochgezogen. Das hindert mich jedoch nicht daran, den einen oder anderen Blick auf das andere Ufer zu werfen. Was ich dort erkennen kann, versetzt mich immerhin in die Lage, meine These durch ein paar Beispiele plausibel zu machen. Wahrscheinlich haben die meisten Leute nie vom Klassenzahl-Problem gehört. Es handelt sich um eines der schwierigsten Rätsel der Zahlentheorie. 1801 von Gauß formuliert, konnte es nach langwierigen Vorarbeiten 1983 von Zagier und Gross endgültig gelöst werden. Ebensolange hat es gedauert, bis das sogenannte Klassifikationstheorem bewiesen worden ist. Dabei ging es darum, die unendliche Vielfalt der einfachen Gruppen zu ordnen, die ihren Namen völlig zu Unrecht tragen, denn sie sind verdammt komplizierter Natur. Erst hundertundachtzig Jahre nach der Begründung der Gruppentheorie haben Aschbacher und Solomon den Schlußstein gefunden. Weitere Belege kann ich mir ersparen. Die beiden Unvollständigkeitssätze Gödels, der vermutlich der genialste Mathematiker des Jahrhunderts war, sind bekannt genug. Auch dürfte sich herumgesprochen haben, daß Fermats letzter Satz, an dem sich drei Jahrhunderte die Zähne ausgebissen haben, im Jahre 1995 von Andrew Wiles bewiesen worden ist. Die Fußballmeisterschaft möchte ich sehen, die mit solchen Triumphen konkurrieren könnte- von den documenta-Ausstellungen und Theatertreffen der letzten Jahre ganz zu schweigen. Trotzdem bleiben die Begeisterungsstürme des Publikums aus, womit wir wieder bei der Ausgangsfrage meiner Überlegungen angelangt wären. Und an diesem Punkt bleibt nur noch ein einziger Sündenbock übrig, nämlich unsere intellektuelle Sozialisation, genauer gesagt: die Schule. Dabei geht es nicht nur um die akute Überforderung, unter der diese Institution heute leidet. Die Versäumnisse liegen tiefer und haben ältere Wurzeln. Man kann sich fragen, ob es in den ersten fünf Jahren des Curriculums überhaupt so etwas wie einen mathematischen Unterricht gibt. Was dort gelehrt wird, hat man früher völlig zu Recht als "Rechnen" bezeichnet. Auch heute noch werden die Kinder jahrelang fast ausschließlich mit öden Routinen gepeinigt, ein Verfahren, das auf die Epoche der Industrialisierung zurückgeht und inzwischen völlig veraltet ist. Bis um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verlangte der Arbeitsmarkt von der Mehrzahl der Beschäftigten nur drei rudimentäre Fertigkeiten: Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Elementarschule war dazu da, notdürftig alphabetisierte Arbeitskräfte zu liefern. Das dürfte die Erklärung dafür sein, daß sich in der Schule ein rein instrumentelles Verhältnis zur Mathematik durch- und festgesetzt hat. Nun will ich nicht bestreiten, daß es sinnvoll ist, das Einmaleins zu beherrschen und zu wissen, wie man einfache Dreisatz- oder Bruchrechnungen auszuführen hat. Aber mit mathematischem Denken hat das alles nichts zu tun. Es ist so, als würde man Menschen in die Musik einführen, in- dem man sie jahrelang Tonleitern üben läßt. Das Resultat wäre vermutlich lebenslänglicher Haß auf diese Kunst. Kindliche Faszinationen In den höheren Schulklassen geht es meist nicht viel anders zu. Die analytische Geometrie wird vorwiegend als eine Sammlung von Rezepten behandelt, ebenso die Infinitesimalrechnung. Das hat zur Folge, daß man gute Noten erzielen kann, ohne eigentlich verstanden zu haben, was man tut. Das gute Abschneiden sei jedem Abiturienten gegönnt, um so mehr, da er auf Lehrplan und Methode nicht den geringsten Einfluß hat. Nur darf man sich nicht darüber wundern, daß ein solcher Unterricht letzten Endes den mathematischen Analphabetismus fördert. Seinen funktionellen Sinn hat er ohnehin längst verloren, weil sich die Standards des Arbeitsmarktes und der Technik in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert haben. Kein Sechzehnjähriger wird einsehen, warum er sich mit langweiligen Berechnungen abgeben soll, die jeder Kaufhaus-Taschenrechner rascher und besser erledigen kann. Aber der übliche Mathematikunterricht langweilt nicht nur, er unterfordert vor allem die Intelligenz der Schüler. Es scheint eine fixe Idee der Pädagogik zu sein, daß Kinder nicht in der Lage sind, abstrakt zu denken. Das ist natürlich ein reiner Köhlerglauben. Eher ist das Gegenteil richtig. Der Begriff des unendlich Großen und des unendlich Kleinen beispielsweise ist jedem Neun- oder Zehnjährigen intuitiv unmittelbar zugänglich. Viele Kinder sind ausgesprochen fasziniert von der Entdeckung der Null. Was ein Grenzwert ist, kann man ihnen durchaus erklären, und der Unterschied zwischen konvergenten und divergenten Folgen leuchtet ihnen ohne weiteres ein. Viele Kinder zeigen ein spontanes Interesse an topologischen Problemen. Selbst mit elementaren Fragen der Gruppentheorie oder der Kombinatorik kann man sie amüsieren, wenn man sich ihren angeborenen Sinn für Symmetrien zunutze macht, und so weiter und so fort. Wahrscheinlich ist ihre Aufnahmefähigkeit für mathematische Ideen überhaupt größer als die der meisten Erwachsenen; diese nämlich haben den üblichen Bildungsgang bereits hinter sich gebracht. Von den Beschädigungen, die sie dabei erlitten haben, werden sie sich in den meisten Fällen nie wieder erholt haben. Es wäre allerdings unfair, wollte man die Mathematiklehrer allein für das Desaster verantwortlich machen. Diese bedauernswerten Menschen sind nicht nur mit den Vorgaben der Didaktiker und ihrer Moden geschlagen, sie müssen auch am Gängelband der Ministerialbürokratie operieren, die ihnen ganz brutale Lehrpläne und Lernziele vorschreibt. Vielleicht ist der Beamtenstatus daran schuld, daß der Lehrkörper, wie sich am Beispiel der sogenannten Rechtschreibreform zeigen läßt, zum vorauseilenden Gehorsam neigt. Eine gewisse Ängstlichkeit hindert viele daran, den Freiraum zu nutzen, den die faktische Unkündbarkeit ihnen eröffnet. Es gibt jedoch Lehrer, die sich den obsoleten Routinen, die man ihnen zumutet, widersetzen und die es fertigbringen, ihre Schüler mit den Schönheiten, Reichtümern und Herausforderungen der Mathematik bekannt zu machen. Ihre Erfolge sprechen für sich. Auch außerhalb des Bildungssystems gibt es vereinzelte Symptome, die hoffen lassen, daß der Tiefpunkt der mathematischen Ignoranz erreicht und vielleicht sogar durchschritten ist. Zunächst scheint sich an der Haltung der Wissenschaftler einiges zu ändern. Die heutige Generation von Mathematikern entspricht weniger denn je dem Klischeebild des introvertierten, weltabgewandten Eigenbrötlers. Das gilt vor allem für die angelsächsische Welt. Nicht nur naheliegende äußere Motive wie der Kampf um Forschungsmittel sprechen für einen solchen Mentalitätswandel. Er hat vor allem innermathematische Gründe. Die sogenannte Grundlagenkrise der ersten Jahrhunderthälfte mag dazu beigetragen haben, daß sich ein weniger rigider Habitus durchzusetzen beginnt. Auch ist der traditionelle Abstand zwischen reiner und angewandter Forschung geschrumpft, seitdem sich Auftraggeber und Nutznießer davon überzeugen ließen, daß sich aus der Grundlagenforschung rascher denn je Gewinne ziehen lassen. Völlig neue Möglichkeiten hat auch die experimentelle, computergestützte Mathematik eröffnet, obwohl deren Methoden lange unter dem Verdacht mangelnder Stringenz standen. Und was den traditionellen Hochmut der Disziplin betrifft, so habe ich den Eindruck, daß er heutzutage durch einen Anflug von Ironie gebrochen ist. Mehr als früher sind sich die Mathematiker ihrer Fehlbarkeit bewußt; sie sind sich darüber im klaren, daß ihre Kathedrale nie fertiggestellt werden wird und daß es für dieses Werk nicht einmal einen lückenlosen Bauplan geben kann. Viele sind sogar bereit, mit Nichtmathematikern zu reden.

 

Semantische Annäherungen

Daß dies zu Verständigungsschwierigkeiten führen muß, ist kein Wunder. Es ist ein gutes Zeichen, daß sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr Dolmetscher gefunden haben, die darauf spezialisiert sind, die formale Sprache des Faches in natürliche Sprachen zu übersetzen. Das ist ein äußerst heikles, aber auch äußerst lohnendes Unterfangen. Auch auf diesem Gebiet sind angelsächsische Autoren führend. Berühmte Brückenmeister wie Martin Gardner, Keith Devlin, John Conway und Philip Davis haben hier Pionierarbeit geleistet; in Deutschland sind Zeitschriften wie "Spektrum der Wissenschaft" und Publizisten wie Thomas von Randow wichtige Vermittlerdienste zu verdanken. Gelegentlich haben sich sogar die Massenmedien mathematischer Themen bemächtigt, so im Jahre 1976, als Appel und Haken das Vierfarbenproblern lösten, das vielleicht wahrscheinich weniger relevant als berüchtigt war. Das Risiko, daß es dabei zu modischen Verzeichnungen kommt wie im Fall der Chaos- und der Katastrophentheorien, muß wohl in Kauf genommen werden. Hier spielen nicht nur semantische Mißverständnisse eine Rolle. Die Sokal-Affäre hat gezeigt, zu welchen Blamagen es führen kann, wenn Dilettanten wissenschaftliche Begriffe ihrem Kauderwelsch einverleiben, ohne zu wissen, wovon sie reden. Auf der anderen Seite ist es ein verheißungsvolles Indiz, daß "Fermats letzter Satz", ein durchaus seriöser wissenschaftlicher Thriller von Simon Singh, zu einem internationalen Bestseller geworden ist. Es gehört eine gewisse Kühnheit dazu, in einer Kultur, die sich durch ein profundes mathematisches Nichtwissen auszeichnet, derartige Übersetzungsversuche zu unternehmen. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, aus einem Dialog zu zitieren, den Ian Stewart, ein professioneller Mathematiker, der glänzend schreibt, seinem Buch "The Problems of Mathematics’" vorangestellt hat. Ein Experte unterhält sich hier mit einem imaginären Laien.

Der Mathematiker: Es handelt sich um eine der wichtigsten Entdeckungen des letzten Jahrzehnts.

Der Laie: Können Sie mir das in Worten erklären, die für gewöhnliche Sterbliche verständlich sind?

Der Mathematiker: Das geht nicht. Sie können keinen Eindruck davon bekommen, wenn Sie die technischen Details nicht verstehen. Wie soll ich über Mannigfaltigkeiten sprechen, ohne zu erwähnen, daß die Sätze, um die es geht, nur dann funktionieren, wenn diese Mannigfaltigkeiten endlichdimensional, parakompakt und hausdorffsch sind und wenn sie einen leeren Rand haben ?

Der Laie: Dann lügen Sie eben ein bißchen.

Der Mathematiker: Das liegt mir aber nicht.

Der Laie: Warum nicht? Alle andern lügen doch auch.

Der Mathematiker (nahe daran, der Versuchung nachzugeben, aber im Widerstreit mit einer lebenslangen Gewöhnung): Aber ich muß doch bei der Wahrheit bleiben!

Der Laie: Sicher. Aber Sie könnten sie ein bißchen verbiegen, wenn dadurch verständlicher wird, was Sie eigentlich treiben.

Der Mathematiker (skeptisch, aber von seinem eigenen Wagemut beflügelt): Meinetwegen. Es käme auf einen Versuch an.

Es ist der Versuch einer Alphabetisierung, auf den es ankäme: ein langwieriges, aber vielversprechendes Projekt, das im zarten Alter zu beginnen hätte und unseren viel zu trägen Gehirnen ein gewisses Fitneß-Training und ganz ungewohnte Lustgefühle verschaffen könnte.

 


 

 

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